Fürsorge 3.0
Von Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender des GdP-Bezirk Bundespolizei
In einer Zeit des stetigen Wandels ist es gut, Werte und Normen zu haben, an denen es sich lohnt, zu orientieren. Doch welche Erwartungen können Beschäftigte an die Fürsorgepflicht in Zeiten der sogenannten Schuldenbremse haben? Das Bild des Berufsbeamtentums wird auch durch die Fürsorgepflicht der Dienstherren geprägt. Der wiederum ist gesetzlich gehalten, für das „Wohl“ des Beamten und seiner Familie zu sorgen.
Doch wie steht es mit einer Begrifflichkeit, die sich aus dem Absolutismus vor 300 Jahren in Preußen entwickelt hat? Zur Festigung der Macht waren Verwalter notwendig. Für das Verhältnis von Herrschern und Dienern entwickelten sich Grundsätze, die noch heute – mit rechtsstaatlichen und demokratischen Aspekten versehen – gültig sind. Wir sprechen von den „althergebrachten Grundsätzen“ des Berufsbeamtentums.
Das jetzige Selbstverständnis von Be-amten entspricht nicht dem von Knechten und Mägden. Die Entwicklung vom preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 bis zur Gegenwart hat dankenswerterweise das Obrigkeitsdenken aufgehoben. Doch was ist geblieben? Der Begriff der Fürsorge scheint die Dynamik nicht mitgenommen zu haben. Der Art. 33 Abs. 5 Grundgesetz ist ein verfassungsrechtliches Fundament des Beamtenrechts. Bei den hergebrachten Grundsätzen handelt es sich laut Bundesverfassungsgericht um einen Kernbestand von Strukturprinzipien. Der Kern dieses Verhältnisses zwischen Dienstherr und Beamten ist die gegenseitige Treue. Zu beobachten ist eine Kernschmelze.
Im Kern getroffen
Angesichts jüngster Verhaltensmuster von Landesregierungen, die den jahrelang geltenden Grundsatz der zeit- und inhaltsgleichen Übernahme des Tarifergebnisses auf die Besoldung und auf die Versorgung aufgeben und in die alten Machtstrukturen zurückfallen, sind vielleicht Zweifel an der Zukunftsfähigkeit nicht des Dienstherren, sondern der politischen Verantwortlichen angebracht. Eine Landesregierung, wie die in Düsseldorf, die sich weigert das Tarifergebnis auf alle Beamten zu übertragen, kann sich die nächste Nachwuchskampagne für den Staatsdienst sparen.
Das Verhältnis zwischen der Beamtenschaft und ihrer Dienstherren ist nicht ungetrübt. Anders ausgedrückt, es handelt sich bei der Fürsorge für die Beschäftigten und ihre Familien nicht um ein modisches Kleidungsstück, wie T-Shirts mit dem Konterfei von Chè Guevara bei einer Gala – unglaubwürdig und deplatziert.
Zum staatlichen Funktionieren sind Beamtinnen und Beamte notwendig. Die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen wurde nicht erst seit der „Schuldenbremse“ mit rein fiskalischen Interessen, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung, Fehlen von Haushaltsmitteln als „zwingende dienstliche Gründe“ versucht zu vermitteln. Mit voller Hingabe leisten sie ihren Beitrag.
Doch nach dem Ende einer Periode von Verwaltungs- und Polizeireformen wurde die Opferbereitschaft auch durch die Organisationsgewalt der Dienstherren stark strapaziert. Die Befunde durch Fehlzeiten und Krankenstände belegen dies. Für eine Eingriffsverwaltung wie die Polizei als „die“ Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols keine Herausforderung, sondern eine Zumutung. Die gesellschaftlichen Begleitumstände, steigende Gewaltbereitschaft und Autoritätsverlust wurden ignoriert, obwohl die Polizei mit rund 270.000 Vollzugsbeamten des Bundes und der Länder einen bedeutenden Sektor des öffentlichen Dienstes darstellt und die Bürgerinnen und Bürger ihr als „handelndem Staat“ begegnen, etwa bei Alkoholkontrollen im Straßenverkehr oder wenn bei einer Festnahme „unmittelbarer Zwang“ angewandt wird.
Zurück in die Zukunft
Welchen Stellenwert hat heutzutage ein Programm für innere Sicherheit? Das von Anfang der 70er-Jahre weckt fast nostalgische Erinnerungen. Ähnlich geht es einem beim Blick auf die damalige Beamtenpolitik. 1971 bestand Einigkeit zwischen Bund und Ländern, den besoldungsrechtlichen Wettlauf zwischen den Ländern zu beenden und die bis dahin bestehende föderale Eigenständigkeit zugunsten einer Rahmenkompetenz des Bundes aufzugeben. Dienstrechtlicher Fortschritt wurde damals so definiert, dass besoldungs- und versorgungsrechtliche Kompetenzen der Länder hinderlich waren für einen leistungsstarken öffentlichen Dienst in Deutschland. Nur durch eine Vereinheitlichung des Bundes mit den Ländern konnte Transparenz und Effizienz der öffentlichen Verwaltung gewährleistet werden. Die Föderalismusreform I korrigierte 2006, also 35 Jahre später, diese als Fortschritt des Dienstrechts gefeierte Reform.
In Zeiten knapper Kassen in den 90er-Jahren wurden weitere Reformziele ausgeben. Die Schutzhülle der Fürsorge reichte nicht gegen den Widersinn von Stellen- und Personalabbau. Die Anzahl der Beschäftigten im öffentlichen Sektor ging von 1991 bis 2010 um insgesamt 1,6 Millionen Beschäftigte und damit mehr als 30 Prozent zurück. Das Ziel „Effizienzsteigerung“ sollte, flankiert durch einen dienstrechtlichen Reformansatz, der sich im Dienstrechtsreformgesetz vom Februar 1997 widerspiegelt, erreicht werden. Unter dem Stichwort „Schlanker Staat“ sollten Organisationsstrukturen gestrafft, Gesetzesanlässe und umfänge dereguliert und Privatisierungspotenziale ausgeschöpft werden. Die Folgen und Nebenwirkungen wurden damals als gewerkschaftliche Kritik angesprochen. Ausgewertet werden sie nun in den Altersstrukturanalysen des Personalkörpers bei der Polizei in den Ländern und beim Bund.
Verlängerte Lebensarbeitszeit
Die Kernschmelze der gegenseitigen Treueverabredung fand ihren Höhepunkt in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Ohne jeden Zweifel ist der Altersdurchschnitt gestiegen. Allein daraus den Schluss zu ziehen, dass in der Folge der Wunsch entstünde, auch länger zu arbeiten, ist falsch. Angesichts der parallel verlaufenden stetigen Steigerung der Arbeitsbelastung ist fast zwangsläufig davon auszugehen, dass der Berufstätige von heute wie auch von morgen seine gestiegene Lebenserwartung primär dazu nutzen will, auch endlich einmal zu leben und zwar gerade nicht im Sinne von „leben, um zu arbeiten“.
Dies hat zur Folge, dass immer weniger Beamte mehr Aufgaben in der gleichen Zeit erledigen müssen wie vor der Anhebung der Altersgrenze und dies nun auch noch zwei Jahre länger. Doch es wurde einseitig in die persönliche Lebensführung der Menschen eingriffen. Besorgniserregend ist darüber hinaus die gängige Praxis, ältere Beschäftigte, die in den Ruhestand oder in die Rente entlassen werden, nicht zu ersetzen. Die Schulabgänge in den nächsten Jahren werden bei der Polizei die Ruhestandsdaten nicht ersetzen können.
Vom Staatsdiener zum Faktor „Mensch“
In der Vergangenheit bestand ein Spannungsverhältnis im Rahmen der Fürsorge darin, einen Ausgleich zwischen der Belastung des Einzelnen und den Interessen des Dienstherren herzustellen – also einen permanenten Ausgleich zu den Vorgaben an einen reibungslosen, ungestörten Arbeitsablauf in der Behörde durch eine Arbeitsorganisation mit erträglichem Arbeitstempo. Doch durch die Prozessoptimierung im Rahmen von betriebswirtschaftlichen Methoden in der Polizei wurde der Polizeibeschäftigte zu einem „Homo Oeconomicus“. Sein Arbeitsverhalten wurde marktorientiert bewertet und privatisiert oder zu einem Faktor von uneingeschränkten rationalen Verhalten. Seine Eingriffsmaßnahme mutierte zu Zahlen, Daten und Fakten.
Dem Wertmuster von polizeilichen Tugenden wie Gerechtigkeit, Tapferkeit und Wahrheitsliebe wurden scheinbar zeitgemäße Begriffe wie Human- und Sozialkapital hinzugefügt, ohne jedoch die Entwicklung einer Fehlerkultur. Eine Schlussfolgerung muss deshalb sein, den übertriebenen Wirtschaftlichkeitsansatz zu ersetzen durch die Zuwendung zu den Menschen. Auch für eine beschäftigtenfreundliche Gestaltung speziell der polizeilichen Arbeitswelt bedarf es statt wohlklingender Absichtserklärungen einer Analyse des Personalbedarfs hinsichtlich Altersstruktur und Fachkenntnissen – inwieweit die Altersabgänge Personal- oder Wissenslücken entstehen lassen. Dies wird maßgeblich davon beeinflusst, wie sich künftig die Aufgabenbereiche und ihre Stellenausstattung entwickeln. Daraus ergibt sich der Handlungsdruck, um den Verlust von praktischem Erfahrungswissen entgegenzuwirken.
Das Menschliche wird gewinnen
Die Dienstleistung der Polizei ist eine Aufgabe von Menschen an Menschen und ihre Handlungsfähigkeit hängt auch vom Wohlbefinden der Beschäftigten ab. Bisher stand die Aufgabenerledigung ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt. Beim Bevölkerungsrückgang gewinnt die Arbeitsleistung jedes einzelnen an Bedeutung. Technik allein wird sie nicht ersetzen können. Das Menschliche, das Soziale, wird gewinnen.
Dem Wunsch nach individuellen, flexiblen Lösungen auf der einen Seite steht das Bedürfnis nach planbaren und übersichtlichen Regelungen auf der anderen Seite gegenüber. So gibt es ein Spannungsfeld zwischen dem Arbeitgeber (Wunsch nach hoher Verfügbarkeit) und den Beschäftigten (Wunsch nach Vereinbarkeit). Die Lösung für familienfreundliche Arbeitsbedingungen liegt in der Erhöhung der Zeitsouveränität. Der Mensch ist eben nicht eine Ameise oder Termite, die anonym und austauschbar unter Gleichartigen ihr Dasein fristet. Diese Erkenntnis ist nicht neu und stammt vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz.
Die Menschen in der Polizei brauchen Antworten auf ihre unterschiedlichen sozialen Fragen. Diese Antworten werden davon geprägt, dass die Menschen die Arbeitswelt aushalten müssen. Der arbeitende Mensch hat einen Anspruch auf eine ausgewogene Balance von Beruf und Privatleben. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben stellt in der Mitte des Lebens andere Anforderungen als beim Berufseinstieg oder kurz vor der Rente oder Pensionierung.
Für viele jüngere Menschen entspricht die traditionelle Geschlechter- und Rollenverteilung insbesondere in einer Familie nicht mehr ihren Wertvorstellungen. Sie suchen nach Lösungen für eine Lebensform einer partnerschaftlichen Familie, in der beide Geschlechter gleich verantwortlich die Aufgaben in Familie und Haushalt aufteilen.
Der Beruf bei der Polizei ist ein Lebensberuf. Im Mittelpunkt des Lebensinteresses der Beschäftigten steht jedoch nicht ihr Beruf, sondern die Familie. Die Lebenserfüllung ist die Geborgenheit der Familie. Wobei das Familienbild des Internetzeitalters nicht vergleichbar ist mit jenem des Biedermeier. Das Wohlbefinden drückt sich in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auch von Pflege und Beruf aus. Es existiert daher ein berechtigtes Interesse der Gesellschaft, dass diese Aspekte stärker berücksichtigt werden als bisher.
Nachhaltiges Handeln sichert das Soziale
Eine Fürsorge auf der Höhe der Zeit betrachtet die einzelnen Lebensphasen: Die Situation eines Berufsanfängers, der als Einstieg von seinem sozialen Umfeld getrennt wird, Menschen, die eine Familie gründen wollen, oder der Aufenthalt in einer Pflegesituation. In jeder Lebensphase ist die Erwartung an ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben eine andere. Niemand ist es gleichgültig, ob er seine berufliche Arbeit nur erträgt oder als positiven Teil seines Lebens empfindet und mit Befriedigung gestaltet. Verbindlichkeit, Planbarkeit, Verlässlichkeit sind Gegengewichte zu Anforderungen und Belastungen. Der Umgang mit den sozialen Folgen prägt die Menschen in unserer Arbeitswelt. Diese Elemente sind Ausdruck für das Soziale und bestimmen die Qualität der Fürsorge. Dies gilt auch über die Pensionierung hinaus.
Der gestiegene Anteil an Älteren muss sich auch dort widerspiegeln, wo Bedürfnisse bestehen. Dies gilt sowohl bei der Gewährung von Beihilfe als auch bei Verbindlichkeit, Planbarkeit, Verlässlichkeit als Maßstab für die soziale Sicherheit über die Arbeitsplatzgarantie hinaus. Damit kann das Private und Berufliche in Einklang gebracht werden. Eine gelungene Verbindung aus beruflichem Einsatz mit den Vorstellungen zur Gestaltung eines erfüllten Privatlebens rückt bei den Menschen immer mehr in den Vordergrund.
Auf der Höhe der Zeit heißt Fürsorge für ein wirkungsvolles Gesundheitsmanagement. Bereits in der Weimarer Republik wurde der Umfang einer Generalklausel „Fürsorgepflicht“ durch die Rechtsprechung, beispielsweise hinsichtlich der gesundheitsgefährdenden Überlastung, konkretisiert.
Nachhaltiges Handeln erfordert für die Organisation der Polizei, dass die sozialen Folgen von Arbeitsabläufen für die Menschen abgeschätzt und auf ihre Wirkung hin überprüft werden müssen. Erst Recht in der Zeit der Schuldenbremse gilt: Die sozialen und ökonomische Faktoren im Rahmen des Nachhaltigkeitsmanagements können nicht isoliert voneinander betrachtet werden.